0126

wERDschätzung 0126, DE – München, Bogenhausen,
Marc Haug, 22.11.2018

Wohin mit dem Rahmen? Das Vorhaben, für den wERDschätzungsrahmen einen besonderen,
angemessen-würdigenden Ort zu finden, gestaltete sich schwieriger als gedacht.

Mit dem ersten Versuch war ich nicht zufrieden. Es verführte in den ersten Novembertagen
der dichte Blätterteppich am Johannesplatz in Haidhausen. Die dort entstanden Fotos schienen
mir zwar gelungen. Aber dem Ort fehlte es an Energie. Vielleicht sollte ich es das nächste
Mal bei den Kiesbänken in der Isar vor dem Muffatwerk ausprobieren, die im Sommer mit
sonnenhungrigen Menschen überfüllt, im Frühjahrshochwasser überschwemmt und
im Winter so unberührt in der Isar liegen – mitten in der Stadt. Ich kam bisher nicht
dazu, hier den 1-Quadratmeter großen Rahmen auszubreiten. Ich bin auch
jetzt noch sicher, dort wäre es einen Versuch wert.

Den Stoffrahmen stets im Rucksack bei mir, entdeckte ich dann auf dem Gelände des
Ökologischen Bildungszentrums im Münchner Osten ein Stückchen Erde, das in mir ein
sympathisches Gefühl hervorrief:

22. November 2018 am frühen Nachmittag. Wiese mit Stuhl. Einer dieser
stapelbaren Plastikstühle, die seit den 80er Jahren zu einem schier ubiquitären
Outdoor-Mobiliar die ganze Welt eroberten. In weiß, grün und braun stehen diese Stühle auf
Terrassen, in Gartenanlagen, auf Campingplätzen,in Strandcafés – oder eben einsam und allein,
auf der großen Wiese auf dem Gelände des Ökologischen Bildungszentrums unweit des Marterls an
der Tucherler Heide. Die Wiese wird nur zwei Mal im Jahr gemäht. Auf ihr dürfen zur
Erhaltung der Biodiversität die Blumen und Gräser noch wachsen und aussagen,
ist die Wiese noch Lebensraum für Insekten  und  andere Tiere.

Vor einiger Zeit hat jemand diesen sonnenbeschienenen Fleck als kleinen
Ort der Erholung erschlossen. Sie oder er muss ein Genussmensch sein. Der Stuhl,
ausgerichtet nach Süden, lädt zum Verweilen ein. Es führt kein dorthin Weg hin. Auch
kein Trampelpfad. Man muss einfach über die Wiese laufen, die jetzt im November
gerade gemäht war. Wenn man sich dem Stuhl nähert, erkennt
man einen Zettel, der auf die Sitzfläche geklebt ist.
Ein Hinweis auf den Besitzer, der gar den

Besitzanspruch für sich reklamiert? Nein, lediglich eine Einladung, dass jeder den Stuhl
benutzen dürfe – verbunden mit der Aufforderung, ihn bitte stehen zu lassen.

Er präsentiert sich so exponiert, dass man fast meinen könnte, von hier aus
einen weiten
 Ausblick haben zu müssen, so wie man es von Almen in den Bergen kennt.
Ein einladender,
 freundlicher, irgendwie friedlicher und in der Dichte  einer Stadt  ein sehr
privat anmutender
 Ort, an dem sich (wenn man die Augen schließt) fast schon Einsamkeit
genießen lässt. Im
 Sommer wird die Wiese nach Kräutern duften, und man wird das Summen
der Insekten hören. Jetzt genießt man dort zurückgezogen die wenigen wärmenden Stunden
der kurzen Herbsttage. Die tiefstehende Novembersonne scheint so warm, dass sie sogar
eine Libelle nach draußen lockt.
 Kaum war der weiße, weiche Stoffrahmen
ausgebreitet,
 ließ sie sich auf ihm nieder. Ein Wohlfühlort.

Marc Haug („Ein Wohlfühlort“)

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